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Mit den Augen essen

Diese Form der Aneignung durch das Auge scheint jedoch nicht erst ein Phänomen unserer Zeit zu sein.
Dem Auge und der Zeit, die beide verschlingend sein können, scheint grundsätzlich etwas sehr "orales" anzuhaften:
In der Mythologie frißt Chronos seine Kinder.

"Das gefräßige Auge" genauer untersuchend, stößt Gert Mattenklott auf eine scheinbar tief in den Riten und Kulten
verwurzelten "Begierde nach Bilderlust", nach Verschmelzung mit dem Heiligen, nach Einverleibung des Göttlichen ,
wobei bei den verschiedensten Opfermahlen der eigentliche Gegenstand der Einverleibung ein Spirituelles und als
Bild im wesentlichen Augennahrung
ist.

Da rituelle Speisen wie jede andere Speise verdaut werden, diese Form von "Haben" also der "Vernichtung" des
Gegenstandes gleichkäme, hat das rituelle Mahl zu allererst einmal Symbol- oder Bildcharakter. Brot ist nicht
schlicht und einfach Brot. Der Teig wird z. B. zum Götterbild geformt, der Bildvorstellung vom Heiligen nachgebildet,
oder wie beim christlichen Abendmahl, als "Leib Christi" bezeichnet.
Sowohl das evangelische Weißbrot nimmt dazu eine besondere Form an, als auch die katholische (Back-)Oplade,
die unzerkaut eingenommen werden mußte, lief man doch angeblich Gefahr, daß sonst Blut heraustropft, würde man
mit den Zähnen draufbeißen.
Das genießende, primär angesprochene Organ scheint also das Auge.
"Denn nicht bloß bleibt Einverleibte nur lebendig, wenn es Bild ist, auch das Bild bleibt nur lebendig, wenn es
einverleibt wird." 60) G. Mattenklott a.a.O., S.90
So geht es hier mit anderen Worten darum, wie man den Inbegriff des Lebens, wie man das Heilige besitzen kann."

Dieses Heilige ist im Diskurs von Georges Bataille jene "Kontinuität des Seins", die wir für uns endgültig erst mit
dem eigenen Tod wiedererlangen, und deren Erfahrung u. a. im feierlichen Ritus des Tötens und Essens eines
"diskontinuierlichen" Wesens, also eines Menschen oder eines Tieres, angestrebt wird.
Daß dieses "Besitzen des Heiligen" nicht auf dem normalen Weg der Nahrungsaufnahme möglich ist, sondern dieser
dazu lediglich stellvertretende Funktion haben darf, scheint einleuchtend gerade für eine nach christlichen Maßstäben
orientierten Gesellschaft, die von der Erfahrung des "rituellen Opfers" abgeschnitten ist und dies durch Imagination
ersetzt hat.
Das Verlangen nach "Vereinigung mit dem Göttlichen" kann also nur, weil das "Opfer" überwiegend Bildcharakter
hat, also bereits einer medialen Abstraktion unterzogen wurde, über das Auge erfolgen.
Diesem ist eine Vereinigung nicht nur im Sinne eines "Als-Ob": möglich , nicht als Metapher, sondern als Aufnahme
eines Bildes als das, was es ist.

Ein ähnlicher Drang zur Vereinigung mit den begehrten Objekten über die Augen, den Gesichtssinn, wird im psycho-
analytischen Diskurs vom M. Balint dem sogenannten "Philobaten" zugeschrieben.
Dessen Beobachtungsdrang erklärt Balint dort aus der Suche nach entweder die Harmonie bedrohenden oder
fördernden, also die freundliche Zugeneigtheit des "Außen" vertiefenden, Objekten.

Die Fotografie scheint zu versprechen, die wachsende Entleerung und Aushöhlung, die die Wirklichkeit
erfährt, zu kompensieren:

Durch die Fähigkeit, die Flüchtigkeit des Augenblicks festzuhalten, stillzustellen, der Überfülle an Fakten, die das
Auge nicht mehr bewältigen kann, scheinbar Herr zu werden, vermittelt die Fotografie die Illusion eines möglichen
Nachvollzugs der Reise anhand der gemachten Aufnahmen, die danach in Ruhe und betrachtet werden können..

"Die gesellschaftliche produzierte Entsinnlichung aller Lebensbereiche bedingt den Bildhunger, der vom gleichen
System dann (sicher unzureichend) wieder gespeist wird.(…) …er hat seine Ursache in der Not der Rezipienten."
,
schreibt Wolfgang Kemp. Und davon legt sehr gut Zeugnis ab: "das Glück dabeigewesen zu sein" bei den
obligatorischen Dia-Abenden der nach 3 Wochen wohlbehalten Heimgekehrten.
Leider werden diese Zeremonien in letzter Zeit immer seltener.

"Ein Foto vergisst nichts." --- das war und ist bis heute eine der Antriebskräfte zum Knipsen, und die Masse der
Dias und Prints scheint Beleg genug, davon auszugehen, dass hier einer drohenden Amnesie entgegengewirkt
werden soll.
Kann das Foto jedoch wirklich Erinnerung wachhalten oder führt der schnelle Produktionsprozess zur Erstellung
einer Fotografie und die meist kurze Verweildauer des reisenden Fotografen nicht dazu, dass die an der Wirklichkeit
gebildeten Vorstellungen, die Erinnerungen daran, sehr schnell verloren gehen und gegen die Erinnerung an einzelne
(der sorgfältigst gerahmten) Dias "ausgetauscht" werden?

Günther Anders schreibt, der Reisende "beraubt sich ja gerade durch die Schnelligkeit der Chance der Erfahrung
so sehr, dass ihm diese Erfahrung des Verlusts der Erfahrung zur einzigen und letzten Erfahrung wird,
"

Die Frage nach der Fähigkeit der Fotografie, Erinnerung zu bewahren, frisch zu halten, kann nicht ohne weiteres
eindeutig beantwortet werden. Ich bin geneigt, den frühen Fotografen noch ein Interesse an dem, was sie da in ihren
kleinen schwarzen "Fallen" gefangen hatten, zu unterstellen.
Heute dagegen scheint "ein-Foto-zu machen", nicht nur wie ein Reflex --- mit dem Wissen, dass das Objekt "im
Kasten ist", verschwindet auch das Interesse an so entstandenen Abbild. Nicht mehr das Foto ist wichtig ---
wichtig alleine scheint nur noch der Akt des Fotografierens, was durchaus mit "der Reise-um-der-Reise-willlen",
mit "fahren-um-des-fahrens-willlen" korrespondiert.

Belichtete Filme ins Labor zur Entwicklung zu geben und wieder abzuholen --- ein Akt reiner Zeitverschwendung!.
Niemand schaut sich die Prints je wieder an.
Digitale Bildaufzeichnungsmöglichkeiten auf elektromagnetischen Speichern, eingebaut in "Foto"-Kameras und
Mobiltelefone: als diese Geräte den Markt überschwemmten, verschwand auch die Reflexhandlung, belichtete Filme
noch entwickeln zu lassen. Der Bildspeicher wandert dann "ungesichert" ins Archiv, oder besser noch, wird beim
nächsten Anlass gelöscht und wieder mit den neuesten Erinnerungen gefüttert, um dann beim nächsten Mal
wieder gelöscht und … .     So bleibt die "Erinnerung" immer auf dem neuesten Stand.

Da die allerorten installierten und vernetzten elektronischen Gehirne sowieso nichts und niemanden vergessen,
ihre "Erinnerung" an uns auf ewig nicht vergessen können, könnten wir uns getrost einer immer beschleunigteren
Amnesie hingeben.

Wenn die Vergänglichkeit , die Impermanenz der Dinge, zwar ein Fluch der Zeit, aber auch erst die
Chance zur Erinnerung ist, wird mit der Unmöglichkeit zu vergessen, mit dem Verlorengehen dieser
Fähigkeit, auch das Gedächtnis keinen Sinn mehr haben.

Copyright © Erhard Scherpf