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Reisen und Fotografie II

Günther Anders charakterisiert in seinem "Exkurs über das Photographieren", diese Form der Aneignung durch
das Auge als den, für die moderne, verbilderte Gesellschaft einzig noch denkbaren Modus von "Haben" von
"Wirklichkeit". Da außerdem die bereits kurz angerissene Funktion des Reisebildes für Amateurfotografen,Touristen,
in einer sprachlich sehr dichten Form aufgearbeitet ist, erscheint es mir sinnvoll, diesen Text ausnahmsweise direkt,
unzerstückelt wiederzugeben, die Gefahr inhaltlicher Wiederholungen durchaus einkakulierend."

" Wer Gelegenheit hatte, Reisende, namentlich aus höchst industrialisierten Ländern, unterwegs, in Rom oder Florenz,
zu beobachten, der wird bemerkt haben, in welchem Grade es sie irritiert, "Einmaligkeiten zu begegnen *; also jenen
großen historischen Gegenständen, die als einzige Exemplare in der Serienwelt herumstehen. Tatsächlich tragen
diese Reisenden auch durchweg ein Mittel gegen diese Störung bei sich; eine Art von Spritze, deren Applikation ihnen
die sofortige Wiederherstellung ihrer Seelenruhe verbürgt; genauer: ein Gerät, mit dessen Hilfe sie Einmaliges, wenn
es sie durch Schönheit oder Unklassifizierbarkeit zu stark irritieren sollte, sofort zum "sujet" machen können, und das
sie instand setzt, jeden allzu bestimmten Artikel in einen "unbestimmten Artikel" zu verwandeln, das heißt: in einen
solchen, der im Reproduktions-Universum einen rechtmäßigen Bestand als Reproduktion haben kann - kurz: sie sind
alle mit einem photographischen Apparat ausgerüstet. Und als Magier, die es noch nicht einmal nötig haben, ihre
Gegenstände zur berühren, durchziehen sie nun in Schwärmen die Welt, "pour corriger sa nature": um den Defekt,
den jedes Stück durch die Tatsache seiner Einzigkeit innerhalb des Serien-Universums darstellt, zu beheben; um es in
das Serien-Universum, von dem es bis dahin ausgenommen gewesen war, durch Reproduktion aufzunehmen, also um
es photographisch "aufzunehmen". Haben sie das knipsend getan, dann sind sie beruhigt.

Dieses "Aufnehmen" bedeutet nun aber auch ein "bei sich Aufnehmen". Denn was diese Magier durch ihr
Reproduzieren erreichen, ist zugleich, dass sie die Gegenstände nun "haben". Man ergänzt nicht: "nur in effigie".
Der Modus, in dem sie diese Gegenstände nun haben, ist vielmehr gerade derjenige, in dem zu "haben" sie gewöhnt
sind. Nur weil sie die Gegenstände in effigie haben "haben" sie sie.
Da ihnen ein anderer Aufenthalt als der zwischen effigies nicht mehr bekannt ist - die Serienwaren ihrer Welt,
zwischen, mit und von denen sie leben, sind ja durchweg Reproduktionen, durchweg Nachbilder von Modellen -
sind Nachbilder für sie eben das Wirkliche. So wenig sie dasjenige photographieren, was sie sehen - denn was sie
sehen, das sehen sie nur, um es zu photographieren; und was sie photographieren, das photographieren sie nur,
um es zu haben - so wenig ist ihnen das, was sie photographieren, das "Wirkliche".
"Wirklich" ist für sie vielmehr die Aufnahme, das heißt: die in das Serien-Universum aufgenommenen und zu ihrem
Eigentum gewordenen Exemplare der Reproduktions-Serie.

Ontologisch ausgedrückt: Das "esse = percipi" haben sie durch ein "esse = haberi" ersetzt.
"Wirklich" ist für sie nicht eigentlich der in Venedig liegende Marcusplatz; sondern derjenige, der in ihrem Photo-Album
liegt, in Wuppertal, Sheffield oder Detroit. Womit zugleich gesagt ist: Nicht dort zu sein, zählt für sie, sondern allein,
dort gewesen zu sein.
Und das nicht nur deshalb, weil dort gewesen zu sein, ihr heimisches Prestige hebt, sondern eben,
weil nur Gewesenes einen sicheren Besitz darstellt. Während nämlich Gegenwärtiges, auf Grund seiner Flüchtigkeit,
nicht "gehabt" werden kann; ein unhaltbares, unreelles, unrentables Gut bleibt, eben nicht bleibt, ist das Gewesene,
da es als Bild zum Dinge und damit zum Eigentum geworden ist, das allein Wirkliche.
Ontologisch formuliert: "Nur Gewesen-sein ist Sein". - Befände sich unter diesen Magiern - was freilich sehr unwahr-
scheinlich ist, denn Photographieren und Philosophieren scheinen einander auszuschließen - einer, der nicht nur mittäte,
sondern der sich im Klaren darüber wäre, was er täte, er würde sein mit Knipsen verbrachte Leben so rechtfertigen.
"Da ich jedes Gewesene in eine Reproduktion und damit in ein physisches Objekt verwandelt habe; die meisten
schwarz auf weiß, einige bunt, und ein paar sogar in Bewegung nach Hause getragen habe, so daß ich sie nun immer
weiter haben kann, ist nichts in meinem Leben vergeblich, nichts vergeudet, nichts unprofitabel gewesen.
Jedes ist nun, weil es bleibt; jedes ist nun, weil es Bild ist."
"Sein" bedeutet also: Gewesensein und Reproduziertsein und Bildsein und Eigentum sein. -

Der engen Beziehung, die zwischen der Reproduktionstechnik und der (nicht zu Unrecht "reproduzierend" genannten)
Erinnerung besteht, weiter nachzugehen, würde zu weit führen. Hier nur so viel, daß sie zweideutig ist:
Einerseits werden wir durch Photos zwar erinnert; aber andererseits - und das ist wichtiger - haben die zu Dingen
gewordenen Souvenirs das Erinnern als Stimmung oder als Leistung zum Verkümmern gebracht und ersetzt.
Sofern der Zeitgenosse überhaupt noch Wert darauf legt, sich als "Leben" aufzufassen, ein autobiographisches Bild
seiner selbst zu gewinnen, setzt er dieses aus den Photos zusammen, die er geknipst hat. Berufen zu werden brauchen
die Bilder des Gewesenen nicht mehr: sie werden aufgeschlagen; und aufzusteigen haben sie nicht nötig:
höchstens aus der Tiefe des Albums. Dort und dort allein liegt seine Vergangenheit, nicht anders als die Marcuskirche.
Nur mit Hilfe der dort eingeklebten und dadurch unverlierbaren Momentaufnahmen rekonstruiert er seine Vergangenheit;
nur in dieser Albumform führt er Tagebuch. - Daß sich sein so rekonstruiertes Leben fast ausschließlich aus Ausflügen
und Reisen zusammensetzt, und alles andere als "Leben" nicht zu rechnen scheint, nur am Rande. -

Im Grunde genommen ist es das Museum-Prinzip, das nun als autobiographisches Prinzip triumphiert hat:
jedem begegnet sein eigenes Leben in Form einer Bilder-Serie, als eine Art von "autobiographischer Galerie";
damit aber eigentlich auch nicht mehr als ein Gewesenes, da alles Gewesene in die eine Ebene des verfügbaren und
gegenwärtigen Bildseins projiziert ist. Zeit, wo ist dein Stachel?

Würde man Herrn Schmid oder Mr. Smith eine Italienreise anbieten, aber unter der Bedingung, unterwegs auf keinen Fall
zu photographieren, also keinerlei Erinnerungen für übermorgen vorzubereiten, er würde wohl die Einladung als
Vergeudung, also als eine beinahe unmoralische Zumutung, ablehnen.
Zu einer solchen Reise gezwungen, würde er unterwegs in Panik geraten, da er eben nicht wüßte, was er mit der
Gegenwart und mit all den "zum Knipsen bestellten" Sehenswürdigkeiten anfangen - kurz: wo er mit sich hin sollte. -

Daß die Reisebüros nicht mit der Aufforderung locken: "Visit lovely Venice", sondern mit der: "Visiti unforgettable Venice"
ist durchaus konsequent. Schon ehe man es gesehen hat, gilt es als unvergeßlich.
Nicht weil es schön ist, soll man es besuchen, sondern weil es unvergeßbar ist; so wie man eine Hose deshalb kaufen
soll, weil sie unzerreißbar ist. Nicht weil es schön ist, ist es unvergeßbar; sondern weil es garantiert unvergeßbar ist,
kann sich der Reisende darauf verlassen, daß es auch schön sei.
Wer aber auf diese Art reist, für den ist die Gegenwart zum Mittel für das "es wird gewesen sein" degradiert;
zur, selbst nicht der Rede werten Ausrede für die allein gültige Reproduktionsware des Futurum II;
also zu etwas Unwirklichem und Phantomhaften. - Zu betonen, daß man so nicht nur reist, ist wohl überflüssig. "


Auszug aus:

Günther Anders "Die Antiquiertheit des Menschen",
Band 1, München 1987, § 22, Exkurs über das Photographieren, S. 180-183

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