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Reisen und Fotografie

Reisen und den Wunsch nach Festhalten des flüchtigen Augenblicks gab es auch schon vor der Erfindung von
Eisenbahn und Fotografie. Es stellt sich die Frage, worin danach die neue Qualität lag.
Vorab lässt sich feststellen, dass schon die bürgerliche Bildungsreise des ausgehenden 18. Jahrhunderts der
optischen Aneignung der Welt, der Wissensaneignung und Bildung durch authentisches Sehen galt.
Den begrenzten zeitlichen Möglichkeiten des bürgerlichen Bildungsreisenden entgegenkommend, waren in der Folge
sehr schnell die ersten Reiseführer erschienen (Baedeker), die den Blick des Reisenden nicht nur auf das
Sehenswerte lenkten, also für die Qualität sorgten, sondern zugleich auch angaben, wie die Welt zu sehen sei
und was in ihr wahrnehmenswert sei (Quantität).
Damit, mit der Bereitstellung solcher Sehanleitungen, Stereotypen, konnte die Reisedauer erheblich verkürzt werden.

Schivelbusch beschreibt die Veränderung durch die Eisenbahn als die Verwandlung der Welt in ein Warenhaus,
in dem jeder Ort zu jeder Zeit verfügbar wurde. Mit der Erfindung der Fotografie wurde dann das Warenhaus des
imaginären Besitzes mittels Fotografie eröffnet.
Reisetagebuch, Reiseschilderung, Zeichnung oder Aquarell einer bereisten Landschaft, waren vor Erfindung der
Fotografie Mittel zur Dokumentation dessen, was man gesehen und erlebt hatte. Sie verlangten jedoch alle noch eine
zeitintensive Beschäftigung mit dem beobachteten Objekt, sowie umfangreiche Kenntnisse und Fertigkeiten in
Hinblick auf das darstellende Medium.
Mit der Erfindung der Fotografie veränderte sich dieses Verhältnis grundlegend.
"Die ´Tage oder Wochen´ der zu leistenden Arbeit des Kopisten sind von den grenzenlosen Kräften der natürlichen
Chemie auf wenige Sekunden reduziert, wobei der Ausführende --- Arbeiter oder Fotograf --- zum unbeteiligten
Zuschauer dessen wird, was aus seiner in die Produktionsverhältnisse integrierten Produktivkraft geworden ist."
Damit beschreibt Hubertus von Ameluxen in "Die aufgehobene Zeit" noch einmal treffend die an anderer Stelle bereits
behandelte veränderte Zeiterfahrung.

John Ruskins Haupteinwand gegen die Fotografie, den er 1870 in einem Artikel veröffentlichte, resultiert aus der
Befürchtung, dass die mechanischen Hilfsmittel, unter ihnen die Fotografie, die "Kräfte des Könnens" im Menschen
erschlaffen lassen. Die Zeichnung, auch die bloße Kopie und Abzeichnung garantiert laut Ruskin jene Authentizität
der Erfahrung, die die rechte Erkenntnis der Natur und der Kunst erst sichert."
Ruskin fürchtet also nicht nur um die handwerklichen Fähigkeiten, sondern auch um die Grundlagen von Erfahrung.

Die Fotografie reduzierte in Bezug auf das Medium den für die Herstellung eines exakten Bildes notwendigen
Zeitaufwand erheblich. Auch war eine zeitintensive Beschäftigung mit dem wiederzugebenden Objekt nicht mehr
zwingend notwendig. Der "flüchtige Blick" genügte, um etwas fotografierenswert erscheinen zu lassen.
Dieser war auf der anderen Seite auch der einzige noch mögliche Blick. Da die Vielzahl der Eindrücke in der Kürze
der Zeit naturgemäß die Gefahr des Vergessens beinhalteten, war der Einsatz der Fotografie wiederum ideal zur
Rechtfertigung der beklagten hohen Reisegeschwindigkeit geeignet.
Hier wiederholt sich eine Feststellung, die ich bereits einige Seiten früher gemacht habe:
Das fotografische Bild fördert durch seine festhaltende Funktion genau das, wogegen es anzutreten scheint.
Es ist Ausdruck und Ursache jener optischen Extase, die uns für einen kurzen "photo-stop" über endlose Highways
von der einen zur nächsten Sehenswürdigkeit jagt.

Im Gefolge der Industrialisierung des Verkehrswesens und der weiteren Steigerung der Reisegeschwindigkeiten
wurden auch die ersten Reisebüros errichtet. Mit der Etablierung organisierter Pauschalreisen (Cook), mit denen ab
Mitte des 19. Jh. nicht nur die Auswahl der Reiseziele und Sehenswürdigkeiten festgelegt wurde, sondern auch die
Dauer des Aufenthaltes, erreichte die Vorausplanung eine Stufe, die bis heute nicht wesentlich verändert wurde.

Damit begann die Ausprägung eines der signifikantesten Merkmale des Tourismus:
Die Stilisierung von Landschaften und Bauwerken zu "Sehenswürdigkeiten". Es begann ein tatsächlicher "Verschleiß"
der Orte --- bedeutete die Erschließung eines Reiseziels doch nichts anderes als dessen Normierung und
Standardisierung nach dem Raster: sehenswert / nicht sehenswert, fotografier-würdig / banal.
Ganz davon zu schweigen, dass der Reisende durch die Egalisierung der Welt, die er effektiv durchfährt, die Zahl der
erfahrenswürdigen und erfahren machenden Gegenstände tatsächlich vermindert.

Auf die kolonialistische Aneignung der Welt im 19. Jahrhundert, die Hand in Hand ging mit der Industrialisierung des
Verkehrs und der fotografischen Aneignung, folgte die touristische Verfügbarkeit.
"Den historischen Zusammenhängen zwischen kolonialistischer und fotografischer Aneignung nachzuspüren, die sich
gerade auch am Beispiel "Amerika" besonders gut verfolgen lassen (nicht zu vergessen den Nahen und Fernen Osten),
wäre sicher notwendig, bedürfte jedoch einer im Moment nicht zu leistenden Literaturarbeit.
Der gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Bilderhunger, der der Kultur der Stereo- und Panoramaaufnahmen zu
einer derartigen Blüte verhalf und schließlich, dank Kodaks "Your press the button, we do the rest", die Fotografie zum
massenhaft gebrauchten Mediums machten, scheint bis heute nicht gestillt.
Das "Take your picture here!" ordnet dabei nicht nur die Welt, sondern markiert auch den Punkt, an dem diese
abgefertigt wird, wo, so könnte man sagen, Erfahrung schon beendet ist, bevor sie beginnen kann.

Im "Das-muss-man-gesehen-haben!" scheint sich die Forderung eines "Initiationsritus" der modernen Tourismus-
gemeinschaft auszudrücken, die mit doppelter Schallgeschwindigkeit kreuz und quer über die Kontinente von einem
"point of interest"
zum nächsten geschossen wird --- um jedes Mal dort wieder anzukommen, wo sie startete.

Mit der Austauschbarkeit, Ersetzbarkeit, und ich bin geneigt zu sagen "Todlosigkeit" der Dinge und Orte, die dadurch
jeglicher Individualität beraubt werden, hat sich auf der Seite der Reisenden eine Gleichgültigkeit breitgemacht,
als Produkt der Unfähigkeit, Unmöglichkeit, sich auf das Hier-und-Jetzt, auf den jeweiligen Ort unserer Anwesenheit,
einlassen zu können.

Mit der Möglichkeit allem habhaft werden zu können, alles zu jeder Zeit erreichen zu können, hat den Reisenden eine
Unruhe überfallen, die das "Hier-und-Jetzt" sehr schnell sehr banal erscheinen lässt, und nur das "Anderswo", an dem
gleichzeitig oder in naher Zukunft etwas viel wichtigeres zu passieren scheint, verspricht Erlösung aus dieser Banalität.
Das Hier-und-Jetzt scheint nichts mehr zu gelten, das Anderswo alles.
Dort angekommen, oder dem jeweiligen Ding habhaft geworden, was das Gleiche ist, ein Konsum von Orten und Dingen
als Waren, verspüren wir jedoch zugleich die unersättliche Gier auf ein Neues,Anderes, nach erneutem Aufbruch
zu einem neuen Anderswo.

Wenn dem Wunsch nach Reisen, nach Aufbruch ins "Unbekannte", nach Zurücklassen des Vertrauten, die tiefe
Sehnsucht nach Veränderung und Erweiterung der bis dahin erfahrenen Wirklichkeit zugrunde liegt, so scheint der
Gebrauch der Kamera --- wie der natürliche Reflex, zur Abwehr einer Gefahr die Hände vor das Gesicht zu halten ---
dazu geeignet, dem auf die "Kodak-Empfindung" reduzierten Reisenden das drohende Gefühl der Desorientierung,
das die unmittelbare Konfrontation mit dem Unbekannten und Unerwarteten birgt, nehmen zu können.

Früher im "Ektachrome-64-Rausch", heute im "Kodak-Gold-Rausch", verschmilzt sich der Fotograf anstatt mit der Welt
dann mit dem uhrwerkspräzisen Surren seines Kamera-Winders.

Die Todesangst --- und um keinen Augenblick dem Vergessen zu überlassen ---
wird mit 3,2 Bildern pro Sekunde gebannt.

Copyright © Erhard Scherpf