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Fotografie und Eisenbahn sind Kinder ein- und desselben Geistes

Wie sieht diese enge Verbindung aus? Welche formalen und inhaltlichen Entsprechungen gibt es zwischen Fotografie
und der Wahrnehmung bei hohen Reisegeschwindigkeiten, der Bildmaschine und der Geschwindigkeitsmaschine?

Die Eisenbahn wird von Wolfgang Schivelbusch als Entfremdungsapparatur beschrieben, die den Reisenden in Distanz
brachte zur Realität, und zwar auf sehr unterschiedlichen Ebenen.
Eisenbahn und Schiene realisierten eine Bewegungsform, die nicht mehr an die Landschaft angepasst war , sondern
der die Landschaft angepasst wurde. Eine sinnliche Erfahrung des Weges war abgeschnitten. Der Reisende war nicht
mehr organisch in den Landschaftsraum eingebunden, sondern von diesem getrennt. Zwischen ihn und dem Raum hatte
sich das maschinelle Ensemble geschoben.

Die Kamera, das Ensemble von Physik und Chemie, von Linse und Fixierbad, schiebt sich ebenfalls zwischen Subjekt
und Aussenwelt. Fotografieren bedeutet immer eine In-Distanz-Setzung, ein In-Distanz-gesetzt-werden.

"Die 'Fotografie ermöglicht einem Menschen, sich mitten im Getriebe zu bestätigen, ohne Teilnehmer sein zu müssen
und körperlich die Entfremdung zu überwinden, ohne die Distanziertheit aufgeben zu müssen." -
sagt Rudolf Arnheim
über die Natur der Fotografie. Arnheims Aussage ist dahingehend erweiterungsbedürftig, als man sagen müsste:
...ohne die Distanziertheit aufgeben zu können.
Der Fotograf muss sich der Eindimensionalität der Apparatur unterwerfen, indem er Wirklichkeit auf den visuellen Aspekt
reduziert. Die Welt wird für den Eisenbahnreisenden und den Fotografen zu einem visuellen Erlebnis. Beide nehmen nicht
mehr teil mit all ihren Sinnen --- können nicht mehr teilnehmen.

Was bedeutet dieses "In-Distanz-gesetzt-werden"?

Mit der Industrialisierung des Verkehrs hatte sich der Reisende weitgehend aus den Beschränkungen, die ihm die
Beschaffenheit der Wegstrecke, die Erschöpfung der Zugtiere oder die klimatischen und jahreszeitlichen Bedingungen
auferlegten, die die Reise erschweren oder sogar verhindern konnten, also aus der Abhängigkeit von der Natur, befreit.

Der Betrachter von Fotografien (Reisefotos / wissenschaftliche Aufnahmen) war ebenfalls gänzlich befreit von der
Notwendigkeit, die Dinge wirklich erleben zu müssen. Die "verdoppelte" Natur lies sich wesentlich leichter und bequemer
untersuchen. Die Fotografie schützte den Betrachter vor der direkten Konfrontation und verwehrte sie ihm gleichzeitig.
Unterwarf sich schon der Fotograf einer Reduktion auf das nur visuelle --- obwohl seine Anwesenheit am Ort des
Geschehens noch notwendig war --- so wird dieser Reduktionsprozess vom späteren Betrachter vervollständigt.
Diesem ist die "Aneignung des Realen" vollständig verwehrt, seine Erfahrung ist die der medial vermittelten.

Der "sehende Geist" schaffte sich mit der In-Distanz-Setzung einen privilegierten Beobachterstandpunkt und war damit
ganz auf der Höhe der Forderung der Natur- und Geisteswissenschaftern seiner Zeit nach objektiver Betrachtung.
"Die Wahrheit ans Licht zu bringen", schien der Augen zu bedürfen.

Da wo das, was man als die Realität begriff, weit weg war, sich zunehmend verflüchtigte oder in der Geschwindigkeit
verbarg --- "Geheimnisse" der Bewegung, die Muybridge, Marey, Gilbreth u. a. , versuchten zu lüften --- implizierte die
Fotografie den unmittelbaren Zugang zu ihr.

"Die Resultate dieser Praxis des unmittelbaren Zugangs schafften auf eine andere Weise Distanz. Die Welt in Gestalt
von Bildern besitzen heisst nichts anderes, als die Unwirklichkeit und Ferne des Realen aufs neue zu erfahren."
schreibt Susan Sonntag in `Über Fotografie´.

Beim Studium zeitgenössischer Texte kristallisiert sich heraus, dass die Krise, in die die Wahrnehmung des am
vorindustriellen Raum-Zeit-Kontinum festhaltenden Reisenden gestürzt wurde, sich am deutlichsten am Gesichtssinn
zeigte. Als einer der Fernsinne, der hier genauer betrachtet werden soll, kann dieser Auskunft geben darüber, dass die
"altenTechniken" der Realitätsvergewisserung mit Beginn der gerade einsetzenden medialen Abstraktion nicht mehr
zu funktionieren schienen.

Der frühe Reisende beklagte eine Verarmung der Wahrnehmung. Das Sehen schien ihm durch die Geschwindigkeit
eingeschränkt. Durch sie verflüchtigten sich die nahegelegenen Objekte. Die Nähe zu den Dingen verschwand.
Das Ende des Vordergrundes entzog dem Reisenden jene Raumdimension, die die wesentliche Erfahrung des vorindustriellen
Reisens ausmachte. Die Geschwindigkeit trennte ihn aus dem Gesamtraum, der Nähe und Ferne verband, heraus
und entzog ihm den Boden der Erfahrung.

Mit wachsender Geschwindigkeit erhöhte sich jedoch auch die Quantität der zu verarbeitenden Eindrücke:
Innerhalb kürzester Zeit kam es für den frühen Eisenbahnreisenden zu einer Übersättigung mit Bildern, zu einem
Reizüberfluss, versuchte er der schnellen Bilderflut mit den Augen zu folgen.

F. Nietzsche schrieb dazu:
"Das Tempo dieser Einströmungen ein Prestissimo; die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv, etwas
hereinzunehmen, tief zu nehmen, etwas zu "verdauen" -- Schwächung der Verdauungskraft resultiert daraus.
Eine Art Anpassung an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: Der Mensch verlernt zu agieren, er reagiert nur noch
auf Erregung von außen her."

Diese Sinnesüberflutung erfährt durch den Einzug der Fotografie in die Tagespresse gegen Ende des 19. Jahrhunderts
noch eine weitere Steigerung.
Johannes Schilling schreibt 1906: "Die Fotografie (...) überflutet in Verbindung mit den ihr nacharbeitenden technischen
Medien und mit dem enorm gesteigerten Verkehr die ganze Welt mit einer derartigen Masse an Darstellungen, wie es die
Menschheit noch nie vorher gekannt hat."
  Auch hier findet sich die Verbindung von Fotografie und Geschwindigkeit wieder.

Doch zurück zu den Anfängen der Fotografie und zur konstatierten Verarmung der Wahrnehmung beim Reisen.
Einer der Gründe, warum die ersten Fotografien eine so große Faszination auszuüben schienen, warum man ihre Detail-
genauigkeit so hervorhob, sie gar mit der Lupe untersuchte, liegt sicher darin, dass der verloren gegangene Vordergrund,
die Nähe zu den Dingen, hier seine / ihre fotografische Wiederauferstehung feierte.

Der Verlust beim Reisen konnte mit der Fotografie scheinbar kompensiert werden.

Das, was sich durch die Geschwindigkeit scheinbar verflüchtigte, geronn auf den Fotografien, als Reproduktion, zur
statischen Erscheinung. Die Fotografie kam damit den traditionellen Wahrnehmungsformen absolut entgegen.
Sie stellte der Verflüchtigung der Dinge den fixierten Augenblick gegenüber. Und erst mit der Möglichkeit, die Bilder der
"camera obscura" zu fixieren, begann der Siegeszug der Fotografie.)

Statik kontra Dynamik / Festhalten statt verflüchtigen.

Wie sehr die Fotografie den tradierten Wahrnehmungsformen entgegenkam, dokumentiert sich sehr augenscheinlich in der
Person und den Einstellungen von John Ruskin, einem vielzitierten konservativen englischen Kunstkritiker und -lehrer des
19. Jahrhunderts. Trotz schärfster Kritiken an allen Bereichen, in denen sich die Mechanisierung, Industrialisierung,
durchsetzte und seinem sehr gespaltenen Verhältnis zur Fotografie schrieb dieser:
"Unter all dem mechanischem Gift, das dieses schreckliche 19. Jahrhundert auf die Menschheit ausschüttet,
hat es uns ein Gegengift gegeben:

Die Daguerreotypie."

Die Faszination der frühen Fotografien, die Neigung der Betrachter sich im Detail zu verlieren, scheint mir jedoch auch ein
Versuch, den Verlust der sinnlichen Welt im Foto selbst zu negieren.

Die "absolute Unerschöpflichkeit" der Details in einer "vollkommenen Fotografie" und das neugierig-suchende Herumklettern
des Betrachters im Bild --- scheinbar ein Versuch, die tote Wirklichkeit subjektiv wieder zu beleben --- kann man sehr gut in
einem Text von Oliver Wendel Holmes von 1859 nachlesen, auf dessen Wiedergabe an dieser Stelle jedoch verzichtet wird.


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